Cover
Titel
Sto studentských evolucí. Vyskokoškolští studenti roku 1989: Životopisná vyprávění v časosběrné perspektivě


Herausgeber
Vaněk, Miroslav u.a.
Erschienen
Praha 2019: Academia
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Surman, Masaryk Institute and Archives of the Czech Academy of Sciences

Studentischen Revolutionen wurden schon so manche Werke gewidmet1 – für die späteren Lebenswege der einstigen RevolutionärInnen interessierte sich die Forschung dagegen bisher kaum. Die vorliegende Publikation Hundert studentische Evolutionen. Hochschulstudenten des Jahres 1989. Lebensgeschichtliche Erzählungen in Zeitrafferperspektive dokumentiert ein durch Miroslav Vaněk geleitetes Projekt, das an ein Ende der 1990er-Jahre durchgeführtes Forschungsprojekt anschließt, das sich den Erinnerungen von 100 TeilnehmerInnen der Samtenen Revolution in der Tschechoslowakei widmete. Wie in der ersten Oral History-Studie, deren Ergebnisse 1999 veröffentlicht wurden und nun ebenfalls in neuer Auflage erschienen sind2, wurden 100 Personen befragt – davon 81, die bereits am ersten Projekt teilgenommen hatten, und 19 neue. Dies bietet spannende Einblicke in die Transformationsprozesse der letzten beiden Jahrzehnte und eine Möglichkeit, die Erinnerung an 1989 in neuer Perspektive zu betrachten.

Was erwartet den Leser bzw. die Leserin in den drei Bänden? Allem voran sind darin 91 Interviews (Bände 2 und 3) zu finden, deren Lektüre einen faszinierenden Überblick über die Erfolge, Erwartungen (und Enttäuschungen) der ehemaligen StudentInnen und ihrer Familien gibt. Liest man sie zusammen mit den Interviews im Band von 1999, ergibt sich eine einzigartige Perspektive auf die Spannung zwischen Erwartung und Realität. Anhand der unterschiedlichen Karrierewege der studentischen AktivistInnen wird deutlich, wie sich ihr damaliges Engagement auf ihre späteren Perspektiven auswirkte. Die Zusammenstellung der SprecherInnen ist gelungen: Das Projektteam hat eine sehr heterogene Gruppe aus Universitäten in mehreren Städten ausgewählt, wobei damals, wie auch in der zweiten Projektphase, Männer überproportional vertreten sind bzw. waren (S. 21).

Diejenigen, die sich das Lesen von knapp 1.300 Seiten Interviews sparen wollen, bekommen im ersten Band einen Überblick über die wichtigsten Ergebnisse des Projekts. Die Beiträge sind gegliedert in methodologische Überlegungen und Ergebnisse (Petra Schindler-Wisten, Jana Wohlmuth Markupová und Miroslav Vaněk), Reflexionen zum Thema Generation (Miroslav Vaněk), Blicke auf die Revolution (Jana Wohlmuth Markupová) sowie Ausführungen über die „Goldenen 90er?“ (Veronika Pehe).

Das generationsprägende Erlebnis ist eindeutig die Samtene Revolution 1989. Wohlmuth Markupová definiert sie mit Verweis auf Arbeiten von Miloš Havelka als formendes „symbolisches Zentrum“ der Erinnerungen (S. 65–70)3 – ein Befund, den Vaněks Analyse empirisch untermauert. Ähnlich eindeutig in den Interviews ist der Bezug auf Václav Havel als der Symbolfigur eines durch die Zivilgesellschaft hervorgebrachten Umbruchs – auch wenn sich hier die negative Beurteilung gegenwärtiger tschechischer Politik durch viele der interviewten Personen herauslesen lässt. Im Zusammenhang mit der Frage der Generation wird auch der Einfluss des Sozialistischen Jugendverbandes auf die Geschehnisse von 1989 diskutiert (S. 93–108). Wenig überraschend hängt diese Einschätzung stark von der jeweiligen gesellschaftlichen Position der SprecherInnen ab.

Auch wenn die Notwendigkeit der Revolution von 1989 durchweg Konsens ist, wird ihre interne Dynamik zwischen den unterschiedlichen Akteursgruppen (StudentInnen, DissidentInnen, Nomenklatur) ziemlich unterschiedlich bewertet. Die Urteile reichen von positiven Aussagen bis hin zur Diskussion über eine „gestohlene Revolution“.4 Letztere war, wie Wohlmuth Markupová ausführlich bespricht, bereits 1990 zum geflügelten Wort geworden und tauchte später in vielen neuen Varianten auf (S. 143–146). Die Revolution und ihre Teilnahme daran beschreiben die ErzählerInnen als „Verpflichtung“ („revoluce jako závazek“), „erfüllte Pflicht“ („revoluce jako splněná povinnost“) oder – von Personen, die ein wenig skeptischer hinsichtlich ihrer Erfolge sind – als „vorgefertigte Koinzidenz“ („revoluce jako připravená náhoda“; gemeint ist hier die Überzeugung, dass die Revolution vor allem aufgrund einer internen Krise des Systems stattfand) (S. 147–159) – drei idealtypische Kategorien, die in kurzen Unterkapiteln mit Zitaten aus den Interviews illustriert werden.

Veronika Pehes Analyse der Erinnerung an die 1990er-Jahre zeigt, wie zwiespältig die RevolutionärInnen die Früchte ihrer eigenen Revolution in der Rückschau sehen. Hierbei spielt zweifellos die jüngste Geschichte eine wichtige Rolle: Sowohl die Wahl des xenophoben Populisten Miloš Zeman zum Präsidenten als auch des unter Korruptionsverdacht stehenden Oligarchen Andrej Babiš zum Premierminister werden an mehreren Stellen in den Interviews und in deren Analyse als Schritte in Richtung illiberaler Demokratien à la Polen und Ungarn gedeutet (explizit auch im Vorwort von Vaněk, S. 13–15). Als einzige der AutorInnen unternimmt Pehe auch Vergleiche mit anderen postsozialistischen Staaten. So zeigt sie unter anderem, dass in polnischen Narrativen über die 1990er-Jahre ganz ähnliche Momente der Selbstkritik zu finden sind (S. 216–218). Darüber hinaus dienen ihr kleinere Kommentare und Zitatfragmente zur Reflexion über weitere spannende Details, etwa die Einführung neuer Begriffe wie „Transparenz“ in den 1990er-Jahren (S. 201).

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die methodische Diskussion, die Vaněk und andere AutorInnen sowohl über neue Zugänge als auch hinsichtlich der Längsschnittperspektive liefern. Hier wird sichtbar, wie intensiv das Projektteam die Erfahrungen der Interviews diskutierte. Mag der Einfluss von Alter und Geschlecht des Interviewenden wenig überraschen, so ist die Frage, ob ein/e GesprächspartnerIn Kinder hat (und in welchem Alter sie sind) nicht auf den ersten Blick relevant (siehe z.B. S. 51f.). Der 1999er-Band hatte, so die AutorInnen, in Tschechien Pioniercharakter. Auch das 2019 publizierte Folgeprojekt hat einen unschätzbaren Wert und es wäre zu hoffen, dass es in den globalen Diskussionen über Oral History rezipiert wird.

Das Projekt steht in einem dezidiert aktivistischen Zusammenhang. 1999 resultierte die Präsentation des Bandes in einem vieldiskutierten Protestschreiben ehemaliger Studierender, später einer ganzen Protestbewegung unter dem Titel „Danke, tretet ab!“ (Děkujeme, odejděte!). Auch das Vorwort belegt, dass es sich hier um ein durchaus politisch engagiertes Projekt handelt. Ein Nachteil ist dies nicht; im Gegenteil liest sich das Werk dadurch leichter und anregender. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die politisch-aktivistische Ausrichtung des Projekts auch dessen Ergebnisse beeinflusste. Als GesprächspartnerInnen treten hier Angehörige einer aktivistischen Gruppe auf, die weder für die heutige Gesellschaft noch die Studentenschaft der späten 1980er-Jahre repräsentativ sind. Wünschenswert wäre daher, dass sich ein ähnliches Projekt Nicht-Eliten widmet. Eine Ausweitung etwa um jene Gruppen, aus denen sich die WählerInnen von Zeman und Babiš rekrutieren, könnte die Perspektive auf die 1990er-Jahre in aufschlussreicher Weise erweitern. Lohnend wäre darüber hinaus ein Vergleich mit anderen postsozialistischen Ländern. Ein fundamentaler Kritikpunkt soll damit allerdings keineswegs formuliert werden, sondern vielmehr ein Ansporn für weitere Projekte. Insgesamt ist dem Forschungsteam zu gratulieren, dass es zwanzig Jahre nach dem ersten Projekt ein ähnlich erfolgreiches durchführen konnte. Und wer keine 1.596 Seiten lesen will, sei auf die Online-Version verwiesen, welche die wichtigsten Ergebnisse des Projekts sowie Videoausschnitte aus den Interviews zugänglich macht.5

Anmerkungen:
1 Vgl. exemplarisch Michael Seidman, The Imaginary Revolution. Parisian Students and Workers in 1968, New York 2009; Martin Franc / Stanislav Holubec (Hrsg.), Mladí, levice a rok 1968 [Die Jugend, die Linke und das Jahr 1968], Praha 2009; Jancsák Csaba (Hrsg.), A Magyar Egyetemisták és Főiskolások Szövetsége (1956). Életútinterjúk tükrében [Der Verband der Ungarischen Universitäts- und Hochschulstudenten (1956). Im Lichte von Interviews], Szeged 2016.
2 Miroslav Vaněk u.a. (Hrsg.), Sto studentských revolucí. Studenti v období pádu komunismu. Životopisná vyprávění [Hundert studentische Revolutionen. Studenten während des Falls des Kommunismus. Lebensgeschichtliche Erzählungen], 2., überarb. Aufl., Praha 2019. Siehe dazu entsprechend Sarah Lemmen über Miroslav Vaněk (Hrsg.), Sto studentských revolucí. Studenti v období pádu komunismu, Praha 2019, in: H-Soz-Kult, 07.07.2021, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29219.
3 Miloš Havelka, Dějiny a smysl. Obsahy, akcenty a posuny „české otázky“ 1895–1989 [Geschichte und Sinn. Inhalte, Akzente und Verschiebungen der „tschechischen Frage“ 1895–1989], Praha 2001, insb. S. 13–18.
4 Diskutiert auf English bei Deanna Wooley, „We Have Something to Celebrate!“ Forging a Community of Memory for the „Velvet Revolution“, in: European Network Remembrance and Solidarity, 21 August 2014, https://enrs.eu/article/we-have-something-to-celebrate-forging-a-community-of-memory-for-the-velvet-revolution (28.05.2021).
5 Sto studentských (r)evolucí. Vysokoškolští studenti roku 1989 v časosběrné perspektivě. Životopisná vyprávění po dvaceti letech [Hundert studentische (R)Evolutionen. Hochschulstudenten des Jahres 1989 in Zeitraffer-Perspektive. Lebensgeschichtliche Erzählungen nach zwanzig Jahren], http://www.studenti89.usd.cas.cz (28.05.2021).

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch